Statistik beweist: Fallschirme sind ohne Nutzen - Teil 2
Fallschirme haben keinen Sinn?!
Eine im renommierten British Medical Journal veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass ein Sprung aus einem Flugzeug ohne intakten Fallschirm nicht tödlicher ist als mit. Auch das Risiko für schwere Verletzungen war ohne Fallschirm nicht höher. Die Wahrscheinlichkeit für Tod oder schwere Verletzungen war in der Kontrollgruppe (in der mit den leeren Rucksäcken) genauso niedrig wie in der Interventionsgruppe (intakte Fallschirme).
Alles Blödsinn?
Nicht unbedingt.
Hier geht es zum
Teil
1 meiner kleinen Statistik-Serie (zum besseren Verständnis bitte vorher lesen...)
Randomisierung oder: Ist der Zufall zufällig wichtig?
Und wieder schauen wir nach England. Diesmal reisen wir in die Zeit kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Die Hauptrolle in dieser Geschichte spielt
Austin Bradford Hill , ein Medizinstatistiker.
Er war übrigens der erste, der einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs vermutet hat – indem er das Rauchverhalten britischer Ärzte analysierte.
Uns interessiert aber ein anderes Thema, nämlich die
Tuberkulose . Sie ist in dieser Zeit die häufigste Todesursache bei jungen Männern: Eine bakterielle Infektionskrankheit, die für viele von uns spätestens seit der Fernsehserie „Charité“ ein Gesicht bekommen hat.
Tuberkulose kann in unterschiedlichen Formen auftreten: Die Miliartuberkulose befällt den gesamten Körper und ist damals - wie die tuberkulöse Meningitis, die sich überwiegend im Gehirn abspielt – ziemlich sicher tödlich. Leidet man unter einer Lungentuberkulose, gleicht der Ausgang dem Dreh am Glücksrad. Die Ärzte können schlecht vorhersagen, wie es ausgeht, und manchmal heilt diese Form sogar ganz von selbst aus.
Die Therapiemöglichkeiten der Tuberkulose sehen zu dieser Zeit ausschließlich Bettruhe vor. Das Penicillin ist zwar schon entdeckt worden, kann aber gegen Tuberkelbakterien (die Erreger der Tuberkulose) nichts ausrichten.
Hoffnung naht schließlich aus den USA.
Dort war bereits 1943 Streptomycin entdeckt worden, ein in der Tuberkulosetherapie vielversprechendes neues Antibiotikum. Allerdings hat das einen überaus stolzen Preis. Für ein Land wie England kein Problem? Doch, weil die Briten im zweiten Weltkrieg ihr finanzielles Pulver verschossen haben. Sogar Lebensmittel sind knapp, und so können lediglich 50 kg des kostbaren Medikaments importiert werden. Aber auch dafür muss England 320.000 US-Dollar hinblättern.
50 kg klingen nach einer Menge, mit der man arbeiten kann, oder?
Tatsächlich müssen die britischen Ärzte jedoch penibel haushalten, weil es einfach so viele Patienten gibt.
Man entscheidet sich, das Streptomycin für die Kranken einzusetzen, die am schlimmsten dran sind und ohne den neuen Wirkstoff ganz sicher sterben würden. Patienten, die an Miliartuberkulose oder tuberkulöser Meningitis erkrankt sind, dürfen also zum ersten Mal hoffen.
Das ist toll, aber was ist mit dem Rest, den mehreren Tausend Patienten, die an Lungentuberkulose erkrankt sind? Es ist am Ende nämlich nur noch Wirkstoff für knapp 50 Patienten übrig. Eine echte moralische Zwickmühle. Bis Austin Bradford Hill die Bühne betritt und die britische Regierung davon überzeugt, mit dem knappen Streptomycin-Vorrat eine Studie umzusetzen. Statt eines mickrigen „Gießkannen-Versuches“ will er dafür sorgen, dass zukünftige Patienten auf der Basis verlässlicher Daten behandelt werden können.
Was tut man also, wenn man mehrere Tausend potenzielle Patienten hat, aber nur einen Bruchteil davon therapieren kann?
Den behandelnden Ärzten kann man die Entscheidung, wer den neuen Wirkstoff bekommen soll und wer nicht, unter keinen Umständen zumuten. Auch Ärzte sind nur Menschen und wären in einer derartigen Lage nicht nur mit finanziellen, sondern auch mit ethischen Interessenskonflikten konfrontiert. Es ist die alte Geschichte: Welches Leben ist wertvoller als das andere? Das des Familienvaters mit vier minderjährigen Sprösslingen oder das der alleinstehenden Krankenschwester, die schwerstkranke Menschen betreut? Wo liegt die moralische Schmerzgrenze? Könnten Sie diese Entscheidung treffen?
Es gibt aber noch ein anderes Problem:
Die Lebensumstände der Erkrankten und die Zustände auf den jeweiligen Krankenhausstationen unterscheiden sich zum Teil enorm. Natürlich hat aber beides Auswirkung auf die Genesung. Um systematische Fehler zu vermeiden, müssen diese Faktoren also berücksichtigt werden. Sonst bekäme man ja wieder keine verlässlichen Aussagen über die Wirksamkeit des Streptomycins.
Austin Bradford Hill überlegt sich, dass der Weg aus diesem Dilemma nur der des Zufalls sein kann.
Wie geht er vor?
Zuerst tut er das, was wir bereits von James Lind und seinen Seemännern kennen: Er stellt Kriterien auf, welche Patienten grundsätzlich für die Studie infrage kommen. Wie bei den Seeleuten auch, muss gewährleistet sein, dass alle Patienten in allen relevanten Merkmalen (die Art der Tuberkulose und deren Stadium zum Beispiel) übereinstimmen.
Er bestimmt ebenfalls, dass es eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe geben muss. Die Interventionsgruppe in einer Studie bekommt die zu überprüfende Behandlung, während die Kontrollgruppe die bisherige Standardbehandlung erhält.
Neu ist die Zuteilung per Zufall. Was heute per Zufallsgenerator passiert, um systematische Fehler zu vermeiden, muss von Bradford Hill erst ausgetüftelt werden.
Nachdem er landesweit mehrere Stationen für Tuberkulose-Kranke ausgewählt hat, zieht er selbst Zufallszahlen, um die Behandlungsreihenfolge festzulegen. In versiegelten Umschlägen wird also festgelegt, in welcher Reihenfolge Patienten entweder mit Streptomycin oder mit der Kontrollbehandlung therapiert werden sollen. Wird ein geeigneter Patient in eines der ausgewählten Krankenhäuser aufgenommen, öffnet ein zentrales Büro den Umschlag mit der nächsten Nummer. Im Umschlag befindet sich die Information, ob am aktuellen Patienten das neue Medikament getestet werden soll oder ob er das Standardprogramm erhält. Anschließend wird der behandelnde Arzt informiert.
Das geht so lange so weiter, bis schließlich 55 Patienten mit Streptomycin behandelt worden sind, während 52 Patienten in der Kontrollgruppe landen.
Das Ergebnis ist so erfreulich wie klar: Sechs Monate nach Abschluss der Therapie sind in der Kontrollgruppe 24 Prozent der Patienten verstorben, in der Streptomycin-Gruppe lediglich sieben Prozent. Austin Bradford Hill hat also ein Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe man ein recht eindeutiges Ergebnis bekommen konnte.
Was haben wir daraus gelernt?
Der Zufall vermeidet Interessenskonflikte und andere systematische Fehler und die Ziehung der Lottozahlen ist gerecht.
Aber zurück zu unserer Fallschirmstudie? Gab es hier eine zufällige Zuteilung?
Wir sehen uns das Studienprotokoll an: Ursprünglich wurden 92 Passagiere, die älter als 18 Jahre waren, gescreent, also für die Studie als geeignet ausgewählt. Anschließend sollten diese per Zufall auf die beiden Gruppen (funktionstüchtiger Fallschirm vs. leerer Rucksack) aufgeteilt werden. 64 davon waren nicht besonders abenteuerlustig und verweigerten die Randomisierung. Weitere fünf wurden als nicht geeignet ausgeschlossen, Gründe unbekannt. Es blieben also 23 Passagiere übrig, die per Zufallsgenerator aufgeteilt wurden.
Randomisierung: Check!
Nächste Woche: Der Dorn im Auge der Studien-Trickser...
Dieser Text stammt aus meinem Buch "Ist das gesund oder kann das weg? Alles über Nahrungsergänzungsmittel", erschienen 2020 bei Droemer.
